Die Entkolonialisierung der Natur
Die Entkolonialisierung der Natur ist zweifelsfrei ein sehr ambitioniertes und vielschichtiges Vorhaben mit Künstlern, Aktivisten und Kreativen (neben Wissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern und Politikern), die in alle Phasen des Projekts eingebunden sind. Naomi Klein hat in diesem Zusammenhang bereits folgende Frage gestellt: „Können wir auf die Krise eine Antwort finden, die nicht die bestehende Ungerechtigkeit und den brutalen Katastrophenkapitalismus noch verschärft bzw. die nicht aus mangelhaften technizistischen Lösungen besteht?“1
Eine solche Antwort erfordert einen weitreichenden Plan und entschiedenes visionäres Denken und Handeln, um die Natur vor der Beherrschung durch Unternehmen, der Monetarisierung und der kommerziellen Ausbeutung durch den biogenetischen Kapitalismus bewahren zu können. Für David Harvey verkörpern diese Kräfte eine „Akkumulation durch Enteignung“, die einen neuen Imperialismus konstituiert und die extrem ungleiche Entwicklung verursacht, die wir gegenwärtig beobachten können. Für Jason Moore ist sie das Resultat einer Jahrhunderte währenden Verflechtung von Kapitalismus und Natur, einschließlich der „kapitalistischen Einverleibung des Lebens und der Prozesse auf unserem Planeten, durch die neue Lebensaktivität immerzu in den Einflussbereich des Kapitals und der kapitalistischen Macht“ hineingezogen würden, sowie der „Einverleibung des Kapitalismus durch die Biosphäre, wobei die von Menschen initiierten Projekte und Prozesse das Netzwerk des Lebens beeinflussen und formen.“2
Die daraus resultierende Ungleichheit ist niederschmetternd. Laut eines aktuellen Berichts von Oxfam besitzen die 80 reichsten Menschen der Welt so viel wie die untere Hälfte der Erdbevölkerung (ungefähr 3,5 Milliarden Menschen) zusammen. 90 Konzerne tragen die wirtschaftliche Verantwortung für fossile Brennstoffe, während eine wesentlich kleinere Anzahl von Regierungen für die geopolitischen und humanitären Interventionen verantwortlich ist, die die Kontrolle über die weltweiten natürlichen Ressourcen und Energievorkommen verschleiern.3 Eine politische Ökologie erfordert eine Auseinandersetzung mit diesen Ungerechtigkeiten in unserer neokolonialen Gegenwart, genauso wie Jahrhunderte des Kolonialismus den Klimawandel verursacht haben.4
Akkumulation durch Enteignung findet dann statt, wenn die fossile Brennstoffwirtschaft in den sogenannten entwickelten Nationen jene Verschmutzung der Atmosphäre mit Kohlendioxid verursacht, die mit der daraus resultierenden Erderwärmung die Existenz kleiner Inselnationen wie Kiribati oder der Malediven bedroht, im Ganges-Delta in Bangladesch für schwere Verwüstungen sorgt und den Permafrost in Alaska schmelzen lässt. Oder wenn die Vertreter eines „grünen Kapitalismus“ – der die nach den 1970er-Jahren gängige Unternehmenspraxis mit dem Deckmantel des Umweltschutzes umgibt – Teile des brasilianischen Regenwaldes im Amazonasbecken kaufen, um für Biotreibstoff Eukalyptus-Monokulturen (grüne Wüsten ohne jegliches Leben) zu pflanzen und damit indigene Gemeinschaften und Quilombola (früher afrobrasilianische Sklaven) aus ihren einst artenreichen und von Einheimischen bestellten Landstrichen vertreiben. Was ist dies, wenn nicht eine von Konzernen gelenkte zeitgenössische Form des Kolonialismus?5
Eine politische Ökologie erfordert eine Auseinandersetzung mit diesen Ungerechtigkeiten in unserer neokolonialen Gegenwart, genauso wie Jahrhunderte des Kolonialismus den Klimawandel verursacht haben.
Wie wir aus dem IPCC-Bericht von 2014 wissen, müssen 80 Prozent der Reserven an fossilen Brennstoffen in der Erde verbleiben, wenn wir unter dem kritischen Schwellenwert von zwei Grad Celsius der globalen Erwärmung bleiben wollen (oder entsprechend mehr, wenn wir einen Wert von maximal 1,5 Grad Celsius zugrunde legen, wie er auf dem Weltklimagipfel COP 21 kürzlich empfohlen wurde). Der Ökosozialist Chris Williams hat darauf hingewiesen, dass dies für die größten globalen Konzerne wie ExxonMobil, Chevron, BP und Shell einer Abschreibung an Vermögenswerten in Höhe von 20 Billionen US-Dollar entspräche.6 Als Reaktion auf diese Möglichkeit hat ExxonMobil seine Aktionäre mit folgender Stellungnahme beschwichtigt: „Ein Szenario, bei dem die Regierungen die Kohlenwasserstoff-Produktion im Planungszeitraum (bis 2040) so beschränken, dass die Treibhausgasemissionen um 80 Prozent zurückgehen, ist mehr als unwahrscheinlich.“ Vielmehr kündigte ein führender Vertreter des Konzerns an, dass „alle gegenwärtigen Kohlenwasserstoffreserven von ExxonMobil neben zukünftigen maßgeblichen Investitionen seitens der Ölindustrie erforderlich sein werden, um den weltweiten Energiebedarf zu decken.”7
Insofern überrascht es nicht, wenn Naomi Klein berichtet, dass 2013 die Öl- und Gasindustrie allein in den USA schätzungsweise 400.000 US-Dollar pro Tag für die Lobbyarbeit unter Kongress- und Regierungsmitgliedern sowie die Rekordsumme von 73 Millionen US-Dollar für bundesweite Kampagnen und politische Spenden während der Wahlkampagne 2012 aufgewendet hat. Und dies nur, um die eigene Agenda zu unterstützen – die aufgrund ihrer Ungerechtigkeit verheerende wirtschaftliche Auswirkungen hat und aufgrund der Luftverschmutzung fatal für die Umwelt ist.8
Vor diesem Hintergrund muss sich jedes Vorhaben einer Entkolonialisierung der Natur mit den gegenwärtigen finanziellen Ökosystemen der Demokratie auseinandersetzen und dabei darf der korrumpierende Zustrom von Unternehmensgeldern in die Politik nicht aus den Augen verloren werden. Wenn die Emissionsreduzierung in irgendeiner Weise einem Gleichheitsprinzip zwischen reichen und armen Nationen folgen soll, dann müssen die wohlhabenden Länder ihre Emissionen um ungefähr 8 bis 10 Prozent pro Jahr vermindern und damit sofort beginnen, um die von Kevin Anderson und Alice Bows-Larkin beschriebene „radikale und sofortige Wachstumswende in den USA, der EU und anderen wohlhabenden Nationen“ einzuleiten.9 Klein schreibt dazu: „Es ist immer noch Zeit, eine katastrophale Erderwärmung zu verhindern, aber nicht ohne die bestehenden Grundregeln des deregulierten Kapitalismus anzugreifen. Und es gibt sicherlich kein besseres Argument für die Veränderung dieser Grundregeln.“10
Naomi Klein
Doch jenseits einer kritischen Analyse unternehmerischer Praxis und des internationalen Systems der Handelspolitik, das die Wirtschaft über den Umweltschutz stellt (einschließlich der Handelsabkommen, die momentan nach den Regeln der WTO und der Weltbank in Kraft sind), müssen wir auch unsere Konzeptualisierung der Natur auf politische Art und Weise entkolonialisieren. Dies kann gelingen, indem wir das Finanzwesen in seiner jetzigen Form nicht länger als gegeben oder selbstverständlich erachten; indem wir die Philosophie der unternehmerischen „Personalität“ aufheben, in der Wirtschaftssubjekte das Leben kontrollieren; indem wir unsere Gesetze verändern und eine biozentrische Integration der Menschen und ihrer Umwelt einleiten, sodass die Existenzrechte der Natur anerkannt und unterstützt werden, so wie viele indigene Gruppen dies fordern; und es kann gelingen durch eine Neuerfindung von Wirtschaftsformen auf der Basis einer selektiven Wachstumsrücknahme und gerechten Verteilung, sodass unsere sozialen Systeme mit ökologischer Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit im Einklang stehen. „Wenn es eine grüne Revolution geben soll“, erklärt der Aktivist und Literaturprofessor Nicholas Powers, „dann müssen wir die apokalyptische Bildwelt durch utopische Prophetie ersetzen, um einen kulturellen ‚Wildling‘ zu schaffen, der horizontale Räume eröffnet, in die die Menschen eintreten können, um am Fest teilhaben zu können.“11
Ich bin überzeugt, dass die Kunst angesichts ihrer langen Geschichte des Experimentellen, der fantasievollen Erfindung und des radikalen Denkens in diesem Kontext eine zentrale und transformative Rolle spielen kann. In ihrer ambitioniertesten und weitreichendsten Form verspricht uns die Kunst genau diese Möglichkeit eines kreativen Wandels bezüglich unserer Vorstellungen und Denkweisen und eröffnet neue Wege für unser Selbstverständnis und unser Verhältnis zur Welt, die sich von den destruktiven Traditionen der Kolonialisierung der Natur unterscheiden.
Jenseits des Anthropozentrismus
Wie oben bereits angedeutet beinhaltet eine Entkolonialisierung der Natur auch eine Überschreitung des menschenzentrierten Exzeptionalismus. Wir können uns nicht länger als Mittelpunkt des Universums und die Natur nicht als unerschöpfliche Quelle an Schätzen begreifen. Zu den in diesem Zusammenhang relevanten Forschungs- und Begriffsfeldern zählen: spekulativer Realismus, neuer Materialismus, ökosophischer Aktivismus, objektorientierte Ontologie, Elementarpolitik und Posthumanismus. Jeder dieser Bereiche bietet unterschiedliche innovative Methoden der postanthropozentrischen Analyse.12
Diese vielfältige und mitunter konfliktreiche Bewegung ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften, die in der Vergangenheit in erster Linie mit dem Menschen, seiner Geschichte sowie mit Epistemologie, Ethik und Ästhetik beschäftigt waren.13 So schreiben Levi Bryant, Graham Harman und Nick Srnicek beispielsweise: „Im Gegensatz zum repetitiven kontinentaleuropäischen Fokus auf Texte, Diskurse, gesellschaftliche Praxis und die menschliche Endlichkeit wendet sich eine neue Generation von Philosophen wieder verstärkt der Realität selbst zu […] und denkt wieder mehr über das Wesen der Realität an sich nach, und zwar unabhängig vom Denken und von der Menschheit im Allgemeinen.“14
Wir können uns nicht länger als Mittelpunkt des Universums und die Natur nicht als unerschöpfliche Quelle an Schätzen begreifen.
Der Soziologe Bruno Latour, ein führender Vertreter dieser Denkweise und ihrer politischen Auswirkungen, spricht davon, dass die globale Umweltpolitik weitgehend gescheitert sei. Er plädiert für eine progressive Strukturierung einer gemeinsamen Welt, in der nichtmenschliche Entitäten Teil eines neuen Gemeinwesens werden und die Grundlage einer postanthropozentrischen sozialen, politischen und ökonomischen Organisation bilden.15
Ein solches Gemeinwesen, das sich in einer „nicht vereinheitlichten kosmopolitischen Sorge“ um das Thema Klima zusammenfinden würde – eine Gemeinschaft, die ihre Unterschiede beibehält – würde die Bedeutung von Materialität und nichtmenschlichen Akteuren anerkennen und die Kausalzusammenhänge, die über den menschlichen Ursprung hinausreichen, in seine Betrachtungen miteinbeziehen (wie in der Philosophie des neuen Materialismus von Jane Bennett). Es würde überdies Ansätze der wissenschaftlichen Forschung und ihre Betrachtung der Natur als Ort einer „radikalen Offenheit, einer facettenreichen, differenzierenden Vielheit, einer agentiellen Dis/kontinuität“ berücksichtigen (wie in der Theorie von Karen Barad). Auch würde es sich auf die Ontologie des „Mit-Werdens“ beziehen, die den menschlichen Körper als Vielfalt von Elementarwesen (einschließlich der bakteriologischen) betrachtet, die alle in komplexen artenübergreifenden Ökosystemen miteinander verflochten sind (wie in der Arbeit von Donna Haraway).16 Es gibt für die politisch-ökologische Analyse in der Tat sehr viele neue kritische Ressourcen.
Im Zentrum dieses Zusammenschlusses steht die Kunst als Plattform für die kreative Praxis des spekulativen Realismus, der mit weiterführenden philosophischen Analysen und konzeptuellen Experimenten verbunden ist. Überdies wird dort beispielsweise untersucht, wie eine „Welt ohne uns“ aussehen könnte bzw. was ein „Egalitarismus der Lebensformen“ und „Erde-Werden“ bedeuten könnte.17 Allerdings gibt es viele mögliche Konfliktpunkte und Brüche in diesem theoretischen Zusammenschluss.
Neben Latour haben Theoretiker wie Morton die herkömmliche westliche Vorstellung von Natur umfassend kritisiert und dafür postanthropozentrische Begriffe ins Spiel gebracht, die selbst post-natürlich sind. An der althergebrachten, konventionellen Definition von Natur als ahistorischer Monolith in einer vom Menschen separierten Sphäre wird bemängelt, dass sie auf einer ontologischen Objektivierung und einer dualistischen Denkweise beruht, die die konzeptuelle Plattform für eine ausbeuterische Praxis bieten. Des Weiteren werden ihre ideologischen Manipulationen kritisch gesehen, insbesondere wenn sie als Kraft der Naturalisierung, Fixierung und Beherrschung auftritt. Eine „Ökologie ohne Natur“ verspricht hingegen die Auflösung dieser Darstellungsformen, die die Ausbeutung einer riesigen Sphäre durch Agenten erlauben, die wiederum in der unnatürlichen Zone der Kultur existieren.18
Meiner Ansicht nach ist die Ablehnung des Begriffs Natur jedoch keine Option, auch wenn ich mit der angestrebten begrifflichen Neuausrichtung übereinstimme, um die Objektivierung der Natur und ihre ontologische Isolation aufzuheben. Umso wichtiger ist es, die Bedeutung von Natur als Kampfruf im gegenwärtigen Wiederaufleben eines indigenen und umweltpolitischen Aktivismus anzuerkennen, der daran festhält, dass der Mensch ganz und gar Teil der natürlichen Sphäre ist. Ein weiteres Problem einiger dieser Ansätze ist, dass es Plädoyers für neue soziopolitische Zusammensetzungen, die sich die kosmopolitische Szenografie einer Weltregierung zum Vorbild nehmen (wie es bei Latour der Fall ist), häufig an einer strukturellen Kritik des Neoliberalismus mangelt. Dieser Mangel erklärt auch Latours problematische Unterstützung von technizistischen Lösungen und Geo-Engineering-Projekten, eine Haltung, die Klein in ihrer jüngsten Arbeit infrage stellt.19
So findet sich in Latours Buch „Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie“ von 2004 oder in seinen jüngeren Texten über das Anthropozän wenig zum Thema WTO, Freihandelsabkommen, zum Weltwirtschaftsforum in Davos oder zur politischen Ökonomie des Petro-Kapitalismus – ein komplexes Netzwerk aus Unternehmen und Institutionen, das die globalen, nicht nachhaltigen Ökosysteme der fossilen Brennstoffe antreibt. Auf diese Weise wird es uns leicht gemacht, die Augen vor der vielgestaltigen Gewalt zu verschließen, die der Klimawandel mit sich bringt.20 In dieser Hinsicht entspricht Latours Schweigen oder seine mangelnde Auseinandersetzung mit der konzerngesteuerten Globalisierung der typischen politischen Zurückhaltung des spekulativen Realismus und dessen allgemeinem Rückzug aus der politischen Sphäre menschlicher Aktivitäten, die in dem eifrigen Bestreben, Theorien objektorientierter Ontologien zu entwickeln, außen vor gelassen wird.21
Umso wichtiger ist es, die Bedeutung von Natur als Kampfruf im gegenwärtigen Wiederaufleben eines indigenen und umweltpolitischen Aktivismus anzuerkennen (...).
Angesichts dieser Tendenzen ist es notwendig, solche Ansätze mit den entscheidenden Darstellungen der politischen und sozialen Ökologie in Beziehung zu setzen; das heißt wenn sie einen kritischen Gebrauchswert haben sollen. Dazu zählen für mich u.a. die Arbeiten der postkolonialen und marxistischen Theoretiker und Aktivisten (beispielsweise Vandana Shiva, David Harvey, Neil Smith und Jason Moore), daneben die direkte politische Analyse von Gruppen wie dem International Forum on Globalization, dem International Rights of Nature Tribunal und der indigenen Bewegung Idle No More, außerdem die eher sozial engagierte Ökokritik (wie die von Rob Nixon, Ashley Dawson und Ursula Heise), die sich alle schwerpunktmäßig mit den Krisen und Konflikten im Kampf um den Umweltschutz befassen. Darüber hinaus müssen Umweltprobleme im globalen Süden thematisiert werden – diesbezüglich möchte ich auf Madhav Gadgil und Ramachandra Guha verweisen, die in diesem Zusammenhang vom „Umweltschutz der Armen“ sprechen. Dadurch würden der Provinzialismus, die Vorurteile und Privilegien des globalen Nordens im Hinblick auf die Ökologie ausgeräumt. Dieses Vermächtnis hat die vom Westen kolonisierten Menschen, die eigene von Armut betroffene Bevölkerung sowie entrechtete und indigene Bevölkerungsgruppen unterschiedlichsten Formen von Gewalt ausgesetzt – als fester Bestandteil dessen, was Gadgil und Guha als „Umweltschutz der Wohlhabenden“ bezeichnen, ein Begriff, der sicherlich auch für einige der jüngeren spekulativen Denkrichtungen zutrifft.22