Minerva Cuevas

Égalité

In roten Lettern prangt das Wort „égalité“ an der Wand des Ausstellungsraums. Minerva Cuevas ahmt in Gestaltung und Farbwahl ihrer großformatigen Wandarbeit das ansonsten in sanften blauen, rosa und weißen Tönen gehaltene Werbelogo der Wassermarke Evian nach. Über dem dominanten Schriftzug erscheinen die blau eingefärbten Umrisse einer Bergkette inmitten der französischen Alpen, wo im abgelegenen Ort Évian-les-Bains seit 1826 das stille Mineralwasser abgefüllt wird. Trotz des ausgetauschten Schriftzugs ist der Verweis auf das weltweit bekannte Wasser in Flaschen unmittelbar zu erkennen. Indem die Künstlerin den Text manipuliert – „evian“ wird zu „égalité“, die darunterliegende Zeile „Eau Minérale Naturelle“ zu „Une Condition Naturelle“ –, füllt sie das Produktlogo des multinationalen Lebensmittelgiganten Danone mit neuem Inhalt. Durch das Aufbrechen des gewohnten Kontexts dieses visuellen Zeichens kommt eine neue Bedeutungs- und Informationsebene hinter der Fassade des Images des alltäglichen Konsums zum Vorschein.

Über 700 Millionen Menschen weltweit haben keinen Zugriff auf sauberes Trinkwasser, 90 % davon leben in Entwicklungsländern oder Ländern mit geringem Einkommen und hoher Armut. Zugleich gilt Wasser in den einkommensstarken Ländern schon längst nicht mehr nur als Grundnahrungsmittel, sondern ist als Luxusprodukt, als „blaues oder flüssiges Gold“, zu einer Geschmacksache oder einem Statement geworden – dort wo qualitativ ausgezeichnetes Wasser scheinbar grenzenlos aus den Leitungen läuft. Der Preis der Ware Wasser überschreitet bei einigen Importprodukten den von Champagner bei weitem. Obwohl viele Anbieter, wie Evian, mit einer nachhaltigen Wasserverwendung werben, sind die PET-Flaschen ein ökologisches Desaster und verschmutzen weltweit die Meere. Der Wasserexperte Dr. Peter Gleick fasst die versteckten Kosten und die Verschwendung von Ressourcen bei der Abfüllung von Flaschenwasser folgendermaßen zusammen: „Um einen Liter Wasser abzufüllen, braucht es drei oder vier Liter Leitungswasser.“ „Rechnet man das Material, die Produktion, den Transport, das Kühlen der Flaschen zusammen, wird bis zu einem Viertelliter Erdöl benötigt, um einen Liter Mineralwasser abzufüllen.“1

Als Quelle der Wasserverschmutzung gelten der Abbau von Sand, Erdöl und die Verseuchung durch Ab- oder Schmutzwasser aus Landwirtschaft und Industrie. Die Zahlen über den Zustand von Wasser sind weltweit alarmierend, wie dem aktuellen Report von UN-Water zu entnehmen ist. Zwei Drittel der Weltbevölkerung erleben jährlich mindestens einen Monat lang Wasserknappheit, was überwiegend zu Lasten der bereits Benachteiligten geht. So ist der Wasserverbrauch pro Kopf in Mexico City, der Heimatstadt Cuevas, einer der höchsten weltweit. Doch ist die Versorgung mit der ohnehin knappen Ressource ineffizient und ungleich, es gibt eine „Zwei-Wasser-Gesellschaft“, wie die taz provozierend titelt,2 und 1,25 Millionen Mexikaner müssen ohne fließend Wasser auskommen. Die zunehmende Verknappung von Wasser und die Verunreinigung der Gewässer begünstigen den Umsatz von Trinkwasser in Flaschen, und die Ankäufe und Privatisierung von Wasserquellen sind lukrative Investitionen.3 Es wird mehr Flaschenwasser verkauft als Softdrinks.4 Einige wenige Großkonzerne teilen sich längst den globalen Markt, der stetig wächst und sich verteuert.5 Der Preis von Evian ist etwa 2016 in Deutschland um fast 50 % gestiegen.6

Cuevas überführt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in die Ausstellung.

Die Thematik der 2004 erstmals präsentierten Installation „égalité“ hat an Relevanz nichts verloren – ist gar aktueller denn je und überführt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, die Cuevas politisches Denken und Interesse bestimmt, in den Ausstellungskontext. Ausgehend von einer konkreten sozialen oder urbanen Situation oder einem Zustand des alltäglichen Lebens untersucht die Künstlerin in ihren konzeptuellen Arbeiten die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens und legt die politischen und ökonomischen Machtstrukturen und Vernetzungen offen. Vor allem ist sie an der Verteilung von Ressourcen, an den Besitzverhältnissen und Werten der neoliberalen kapitalistischen Gesellschaftsordnung und am „Überleben“ im urbanen Kontext interessiert. Dabei verwendet Cuevas, deren künstlerische Praxis Malerei, Video, Skulptur, Fotografie und Installationen umfasst, Bilder und Objekte des alltäglichen Konsums und Lebens, die sie durch kritische Interventionen und Aktionen im öffentlichen Raum bewusst verändert.

Gründung der Mejor Vida Corporation

1998 gründete die Künstlerin die Firma Mejor Vida Corporation, die bis 2003 im Latin American Tower in der Innenstadt von Mexico City ansässig war, bis heute online existiert und temporär Läden eröffnet, wie z.B. 2011 im Rahmen von „Playing the City 3“ in Frankfurt. Ziel dieser Firmengründung war es, Lösungsansätze für grundlegende Probleme der ärmsten Bewohner vorzuschlagen und dadurch deren Leben zu erleichtern. Mexiko war damals stark von den turbulenten Ereignissen und radikalen Veränderungen der 1990er-Jahre gezeichnet: politisch motivierte Attentate, der Aufstand der Zapatistas, die Unterzeichnung der NAFTA-Verträge, die mit der neoliberalen wirtschaftlichen Umorientierung Mexikos einherging und zu einer katastrophalen ökonomischen Krise führte, sowie die Niederlage der PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) nach 70 Jahren Herrschaft. Die Folgen waren soziale Unruhen, eine anhaltende Ungleichverteilung des Besitzes, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, politische Intrigen, Korruption sowie ein Anstieg der Armut der stetig wachsenden Bevölkerung. Gegenwärtig gelten an die 45 % der Einwohner Mexikos als arm.7

Die Leitlinie von Cuevas’ Unternehmen ist es, anstatt Gewinn zu erwirtschaften, Geld auszugeben, wobei diverse Produkte und Services umsonst angeboten werden, wie beispielsweise manipulierte Barcode-Aufkleber zum günstigeren Erwerb von Lebensmitteln im Supermarkt oder „Safty Pills“, mit denen sich vermeiden lässt, dass man in der Bahn einschläft und ausgeraubt wird. Indem die Künstlerin den Mechanismus eines Unternehmens, gewinnbringend zu agieren, außer Kraft setzt und sich gegen das ökonomische Nützlichkeitsprinzip wendet, lenkt sie den Blick auf die „Verlierer“ des Kapitalismus.

Cuevas bedient sich der Sprache und des Vokabulars der Werbung und verändert, indem sie „evian“ durch „égalité“ überschreibt, das Image der Luxusmarke, welches mit den Schlagwörtern Reinheit, Erholung und Detox verbunden ist. Die komplexen globalen Verzahnungen und die Rolle des multinationalen Konzerns im Hinblick auf die Verteilungsproblematik, die sich auch aus dem ökonomischen Kreislauf des Produkts Wasser ergibt, werden angedeutet und hinterfragt. Allerdings geht es Cuevas nicht um eine neue Utopie oder die Veränderung der Systeme im Ganzen, sondern darum, die Lücken innerhalb der Strukturen aufzuzeigen und Alternativen anzubieten. „Ich beabsichtige nicht, eine perfekte Welt zu schaffen“, so Cuevas. „Ich glaube nicht, dass das möglich ist, aber ich glaube, wir können kleine Dinge verbessern.“8 Dabei nutzt sie die Möglichkeit und Freiheit der Kunstinstitutionen, um ihre Aktionen oder künstlerischen Arbeiten mit der sozialen Realität zu verbinden, Spannungen aufzuzeigen und Öffentlichkeit zu schaffen.

„Ich beabsichtige nicht, eine perfekte Welt zu schaffen.“
Minerva Cuevas

Die Forderung „égalité – une condition naturelle“, „Gleichheit – ein Naturzustand“, die in der französischen Verfassung verankert ist, hat sich aus dem institutionellen Rahmen bewegt und zu einem Aktionstool gewandelt. Das „égalité“-Wandbild wird im Ausstellungsraum der Schirn Kunsthalle zusammen mit Plakaten präsentiert, die dasselbe Motiv zeigen. Es kann aber auch mit kleinen Wasserflaschen mit demselben Logo ausgestellt werden. Die Plakate setzten Studenten aus Frankreich bei einer Demonstration als Kritik gegen Marine Le Pens rechtspopulistische Politik ein und die Besucher der Schirn können sie nun aus dem Ausstellungsraum mit nach Hause nehmen. Wie die Künstlerin in einem Interview feststellt, ist es unsere Entscheidung, wie wir auf unsere soziale Wirklichkeit reagieren und diese (mit)gestalten wollen. Und in dieser Form hat auch Kunst die Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern.

Gislind Köhler

Gislind Köhler (* 1984 in Haarlem, NL) schreibt und macht Ausstellungen. Sie ist Mitbegründerin des Artist-run-space Jenifer Nails, unterstützt die Gründung einer Stiftung im Projektmanagement und arbeitet aktuell an einem Ausstellungsprojekt im öffentlichen Raum am Mehringplatz in Berlin.