Frieden mit den Pflanzen? Mit ihnen selbst oder durch sie, als Symbol einer pazifistischen Existenz? Oder beides zugleich?
Seit ihrem Anbeginn ist die „Zivilisation“, wie wir sie nennen, im Krieg mit der pflanzlichen Welt. In den frühen Agrargesellschaften, die entlang des Nils und in den Tälern Mesopotamiens ihre Blütezeit erlebten, erforderte die Kultivierung der Nutzpflanzen die erste genetische Manipulation der Natur, um eine Standardisierung und forcierte Produktion zu erreichen. Von Anfang an waren Menschen und Pflanzen idealerweise, wenn auch nicht zur Gänze, Monokulturen: Sie waren planbar, geregelt, überschaubar und homogen. Die Gewalt gegen Pflanzen war von der gleichen Unerbittlichkeit gekennzeichnet, mit der die Orte ihres Wachstums eingenommen, kolonisiert, verändert, verkleinert oder vergrößert wurden. Sümpfe wurden ausgetrocknet und Terrain eingeebnet – der Ackerbau hat die Welt, sowohl die Pflanzenwelt als auch unsere Lebensgemeinschaften, grundlegend geprägt. Bestehende Unterschiede zwischen den Pflanzenarten wurden nivelliert, zwischen den Menschen hingegen befördert, was schließlich zu ungerechter Arbeitsteilung und sozioökonomischer Schichtung führte.
Die Praktiken der Entwaldung
Die europäische Zivilisation erklärte den Wald, der in den Märchen – in denen sich die tieferliegenden Schichten vergangener Kulturen offenbaren – immer noch ein geheimnisvoller Ort der Dunkelheit, der Obskurität und der Irrationalität ist, gewissermaßen zum Feind. Dies ist nicht nur in Mittel- und Osteuropa – von Deutschland bis Russland – der Fall, wo sich die kollektive Identität im Verhältnis und in der Distanz zum Wald herausgebildet hat. Bereits im antiken Griechenland zu Zeiten Aristoteles’ assoziierte man die Materie (hyle) mit Holz und mit dem Wald. Dieser versinnbildlicht in seiner Dichte Körperlichkeit und eine durch das Prinzip der Lebendigkeit noch nicht aktualisierte Möglichkeit – ein Prinzip, das in einem Körper zum Ausdruck kommt, der in Abwesenheit solcher Lebendigkeit für unbelebt gehalten wird. Die eigentliche menschliche Existenz, das „Dasein“, das Martin Heidegger als „Lichtung des Seins“ beschreibt, beruht auch auf der Vorstellung, dass eine Lichtung im Wald der Ort eines vom festen Griff der Materie befreiten Geistes ist. Die Praktiken der Entwaldung bzw. Abholzung gehen insofern mit dem metaphysischen Anspruch einher, die Domäne des Geistes auf Kosten der im Grunde hölzernen Materie zu erweitern. Demnach kann sich der reine Geist nur in der Wüste frei entfalten, auf einem lebensfeindlichen Boden bar jeglicher Pflanzen, mit einem Horizont, der unmittelbar in den Himmel übergeht.
Die europäische Zivilisation erklärte den Wald, der in den Märchen (...) immer noch ein geheimnisvoller Ort der Dunkelheit, der Obskurität und der Irrationalität ist, gewissermaßen zum Feind.
Krieg gegen die Pflanzen
Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte der Krieg gegen die Pflanzen angesichts all der Ungewissheiten, die mit dem Jagen und Sammeln einhergingen, eine Frage des Überlebens war, dann ist die Lage heutzutage eine völlig andere: Die Fortführung solcher Feindseligkeiten gefährdet alles Leben auf der Erde. Trotz der Erfindung des Hubble-Teleskops und des großen Hadronen-Speicherrings sehen wir unsere natürliche Umgebung letztlich nicht anders als die Wegbereiter der „zivilisatorischen Mission“. Wir sind auffallend träge, wenn es darum geht Überzeugungen aufzugeben, die längst durch die Wirklichkeit widerlegt sind. Um Heideggers Gedanken an dieser Stelle nochmals aufzugreifen: Es verlangt uns immer noch danach, jeden Winkel der Erde zu bebauen und zu kultivieren, und wir vergessen dabei, dass es kein Wohnen ohne Seinlassen, Offenlassen oder Überlassen der Herrschaft gibt.
Und damit die obigen Ausführungen nicht zu abstrakt erscheinen, möchte ich vorschlagen, „Seinlassen“ mit „Wachsenlassen“ zu ersetzen. Diese kleine Veränderung ist im Lichte dessen, was Heidegger selbst über die frühe Philosophie sagt, gar nicht so unbegründet. Das Sein wurde hier nämlich als physis, als natürliche Beschaffenheit oder Natur aufgefasst, wortwörtlich als alles, was wächst und gedeiht, einschließlich der dazugehörigen Bewegung.
Aber was genau bedeutet „Wachsenlassen“? Sollen wir das Gärtnern mit der selektiven Pflege nur bestimmter Pflanzen etwa aufgeben? Oder vielleicht die Bürgersteige, Straßen und Plätze dem „Wildwuchs“ überlassen? Unkraut wachsen lassen, auch wenn es andere Pflanzen unterdrückt?
In meiner Vorstellung bedeutet Wachsenlassen vielmehr eine globale Veränderung der Geisteshaltung, ein neues sozionatürliches Abkommen bzw. eine alternative physio-ontologische Gestaltung des Lebens. Ein Friedensabkommen mit den Pflanzen sozusagen. Der französische Philosoph Michel Serres hat bereits für die Bildung eines Biogaia-Parlaments plädiert, einer Institution, die weltweit „Luft und Wasser, Energie, die Erde und alle Lebewesen oder kurz gesagt Biogaia vertreten würde“.1 Seine Idee ist trotz der Tatsache, dass parlamentarische Diskussionen gewöhnlich nicht mehr als heiße Luft hervorbringen, anerkennenswert. Bevor wir uns aber den Repräsentations- und Ausdrucksformen eines solchen Parlaments zuwenden, gilt es ein friedliches Zusammenleben und eine einvernehmliche Zusammenarbeit zwischen den verschiedensten Beteiligten einer solchen Institution sicherzustellen.
Wie man Frieden mit den Pflanzen schließt
Ein Friedensabkommen ist eine Annäherung zwischen zuvor verfeindeten Gruppierungen. Im Falle des Krieges gegen die Pflanzen – der nun durch die Gentechnik und die in einem bislang ungekannten Ausmaß verschärften Monokulturen eine äußerst aggressive Ausprägung angenommen hat – sind die Feindseligkeiten allerdings völlig einseitig: Es war die Menschheit, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Leben der Pflanzen zu beherrschen, zu bestimmen und sich untertan zu machen. Jene üben hingegen aus ihrem Inneren heraus und auf genetischer Ebene einen lautlosen aber beständigen Einfluss auf uns aus. Die Last der Verantwortung für dieses prekäre Verhältnis müssen wir daher allein auf uns nehmen und ein neues Abkommen oder einen neuen Umgang mit der Pflanzenwelt initiieren, um unserer Missachtung der Erde, der Lebensgrundlage insgesamt wie auch anderer Menschen ein Ende zu bereiten. Sollte uns das jemals gelingen, würde dieser Frieden mit den Pflanzen einen grundlegenden Rahmen für eine nicht nur formale und kalkulatorische, sondern ontologisch und ökologisch fundierte Umweltgerechtigkeit schaffen.
Sollte uns das jemals gelingen, würde dieser Frieden mit den Pflanzen einen grundlegenden Rahmen für (...) Umweltgerechtigkeit schaffen.
Unsere Annäherung an die Pflanzen ist daher im Wesentlichen eine Frage unserer eigenen Verantwortlichkeit. Ein wichtiger erster Schritt wäre das Eingeständnis, dass die Flora nicht so „nicht-oppositionell“ ist, dass sie den Kontext ihres Wachstums einbeziehen könnte, und dass die Menschen nicht so oppositionell sind, dass sie alles, was sie umgibt, negieren und zunichte machen müssten. Unser Verhältnis zu Pflanzen war im Prinzip nie wirklich eines, denn wie kann eigentlich eine absolute Oppositionalität (mit der die Menschen verbunden wurden) oder eine absolute „Nicht-Oppositionalität“ (mit der die Pflanzen gleichgesetzt wurden) in einem Verhältnis zum Ausdruck gebracht werden? In einem Krieg, der schlimmer ist als offene militärische Auseinandersetzungen, versäumen wir es im Angriff auf die Pflanzenwelt den Feind als Feind zu erkennen. Vielmehr sehen wir nichts als ein verschwommenes Grün, aus dem mitunter etwas deutlicher hervortritt, wenn wir hungrig sind oder Baumaterialien benötigen, nur um sich dann wieder in der Befriedigung oder Nichtbefriedigung des Bedürfnisses zu verflüchtigen. Eine Hinwendung zur Pflanzenwelt hebt nicht die Distanz auf, die zwischen uns liegt, sondern stellt diese Distanz erst her.
Die Annäherung an das Pflanzliche als ein „Wer“ – eine Modalität, die herkömmlicherweise der Seele und in modernen Diskursen der Subjektivität zugeordnet wird – muss jeglicher nachfolgenden Entscheidung vorausgehen, ob mit feindlicher oder friedlicher Absicht. Überdies ist die Pflanze ein „Wer“, das wächst und sogar durch diese Aktivität des Wachsens definiert wird. Dabei genießt sie eine gewisse Freiheit: ob sie blüht, sich verzweigt, was das Ausmaß genetischer Transkription, Erinnerung usw. betrifft. Ein „Wer“, das mit seiner Umwelt wächst und auf die winzigen Veränderungen reagiert, die dort vor sich gehen, von der Welt nur durch eine geringfügige Barriere (d.h. durch eine verbindende Membran) des „Mit“ getrennt. Ein friedliches Zusammenleben mit Pflanzen ist nicht vorstellbar, solange wir sie nicht einfach wachsen lassen. Wachsenlassen für nichts (zumindest nichts, was wir für uns nutzen können) bedeutet, das pflanzliche „Wer“ wahrzunehmen und anzuerkennen. Es ist mehr als Abstandnahme und Tatenlosigkeit – obwohl wir von der scheinbar unendlichen Ausbeutung der Pflanzen Abstand nehmen müssen. Es ist vielmehr eine zugleich ethische und ästhetische Grundhaltung, die das Wachsen unterstützt, unabhängig von extern auferlegten Zielen, ob sie nun pragmatischen oder lediglich dekorativen Charakter haben.
An diesem Punkt wird der Leser vielleicht misstrauisch: Ist Frieden wieder nur eine Worthülse, ein utopischer Wunsch, der nur in den träumerischen Gefilden der Kunst Erfüllung findet? Handelt es sich um eine Pazifizierung der Bedürfnisse (Herbert Marcuses „Pazifizierung der Existenz“), der zufolge wir, mit Luxus und Überfluss gerüstet, es uns schließlich leisten können, den Überlebenskampf, der mit Gewalt gegen Menschen und nichtmenschliche Lebewesen einhergeht, zu unterdrücken? Weit gefehlt. Es ist nicht meine Absicht, die Ästhetik als Allheilmittel der gesättigten Bourgeoisie gegen den fortwährenden Schrecken der Zivilisation anzuführen. Was ich mit meinem Plädoyer für ein Friedensabkommen mit den Pflanzen vielmehr erreichen möchte, ist eine friedliche Befriedigung der Bedürfnisse innerhalb des sogenannten „Reichs der Notwendigkeit“ sowie die Kultivierung eines umweltfreundlichen Verhaltens im „Reich der Freiheit“. Indem ich den Begriff Seinlassen durch Wachsenlassen ersetze, entwickle ich die Vorstellung einer Zukunft, in der unser normativer Wachstumsmodus, der sich gegen alles und jeden richtet, einem Wachstum mit dem anderen weichen würde. Doch nicht in symbiotischer Weise, denn wenn wir die Unterschiede beibehalten, dann sind wir auch bereit zu teilen, ohne die anderen als oppositionelle, militaristische Gruppen von Freund oder Feind einzuteilen.
Wenn die landwirtschaftliche Arbeit auf die Kapazitäten und Bedürfnisse der Pflanzen selbst zu reagieren beginnt, ist dies ein Zeichen dafür, dass ein Friedensabkommen mit den Pflanzen in Kraft getreten ist. Passt sich der Ackerbau – auf geduldige und nachsichtige Weise – der pflanzlichen Zeitlichkeit, der Geschwindigkeit oder dem Rhythmus der reproduktiven Möglichkeiten, der von den menschlichen „Produzenten“ unterdrückt wird, an? Entgeht er der Falle der Monokulturen und fördert hingegen die Vielfalt der Pflanzenwelt? Trägt er den Beschränkungen und Einzigartigkeiten des Ortes, der kultiviert wird, und der Zufriedenheit der Landarbeiter Rechnung?
Das Ungleichgewicht im Wachsen der physis
Sofern die menschliche Bevölkerung exponentiell weiterhin so anwächst, wird nichts dergleichen passieren. Eine ethische Landbewirtschaftung wäre eine private Fantasie, die auf einige wenige in der wohlhabenden Welt beschränkt bliebe. Das Problem ist nicht der langsame, ineffiziente, saisonale, parasiten- und wettergerechte Anbau von Pflanzen, sondern der lawinenartig anwachsende Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen seitens des Menschen, der alles zum Wachsen zwingt, anstatt es wachsen zu lassen. Viel zu lange schon haben wir ein Wachsenlassen (das sowieso nicht als eine unendliche quantitative Zunahme begriffen werden sollte) nur für uns Menschen beansprucht, während wir die organische und nicht-organische Welt zwingen, mit uns und dem zunehmenden Tempo des Konsums zu wachsen. Das daraus folgende extreme Ungleichgewicht im Wachsen der physis ist so alt wie die Geschichte selbst. Erst kürzlich hat sich die Situation in einer Krise zugespitzt, daher ist es umso wichtiger, die Prinzipien des Wachsenlassens und des Mit-Wachsens in einem relationalen Ganzen der Freiheit („lassen“) zu verbinden und zwar unter Einbeziehung der wechselseitigen Beschränkungen („mit“). Innerhalb dieser Grenzen werden wir schließlich die Frage stellen können, wer die andere, pflanzliche Seite ist und auch wer wir sind – nach der Beendigung des Krieges gegen die Natur, der unsere Energien verbraucht und einen wesentlichen Teil unserer Kreativität für den Überlebenskampf in Anspruch genommen hat, von anderen existenziellen Möglichkeiten ganz zu schweigen.
Das Problem ist nicht der langsame, ineffiziente, saisonale, parasiten- und wettergerechte Anbau von Pflanzen, sondern der lawinenartig anwachsende Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen seitens des Menschen, der alles zum Wachsen zwingt, anstatt es wachsen zu lassen.
Friedensabkommen implizieren eine temporäre Aussetzung der Feindseligkeiten, die vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufflammen können. Sie sind definitionsgemäß bedingt im Gegensatz zu einem bedingungslosen fortwährenden Frieden, den Kant als das kosmopolitische Ende der Menschheitsgeschichte annahm. Unser Friedensschluss mit den Pflanzen müsste, um wirklich sinnvoll zu sein, der zweiten Variante mit ihrer Bedingungslosigkeit folgen. Und warum dann ein „Abkommen“? Weil es die Gelegenheit für eine Zusammenkunft eröffnete, miteinander und mit den Pflanzen, eine Versammlung, in der die etymologische Bedeutung des altfranzösischen traitié anklingen würde. Der Keim des „Miteinanderwachsens“.