Frieden muss erfunden werden. Aber was könnte „erfinden“ an dieser Stelle anderes bedeuten als die Schaffung von etwas Neuem. Gewöhnlich werden Krieg und Frieden als Gegensätze betrachtet, entweder es ist Krieg oder Frieden. In vielerlei Hinsicht meinen wir hier das Echo George Orwells zu vernehmen, der scharfsinnig erkannte, dass die großen Propaganda-Apparate des 20. Jahrhunderts Krieg als Frieden und Frieden als Krieg ausgaben. Im 21. Jahrhundert, so viel können wir heute sagen, hat sich das noch verstärkt. Das größte Hindernis für den Frieden ist vielleicht die Angst vor dem Frieden – das heißt, es ist die Ungewissheit, die Angst macht, da die meisten unter uns keine adäquate moralische oder visuelle Sprache für Frieden haben.
Bertolt Brecht hat diese Absurdität von Krieg und Frieden in seinem Drama „Mutter Courage“ und ihre Kinder von 1939 sehr gut erfasst:
„Der Feldwebel: Man merkts, hier ist zu lang kein Krieg gewesen. Wo soll da Moral herkommen, frag ich? Frieden, das ist nur Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung. Die Menschheit schießt ins Kraut im Frieden. Mit Mensch und Vieh wird herumgesaut, als wärs gar nix. … Ich bin in Gegenden gekommen wo kein Krieg war vielleicht siebzig Jahr, da hatten die Leut überhaupt noch keine Namen, die kannten sich selber nicht. Nur wo Krieg ist, gibt’s ordentliche Listen und Registraturen, kommt das Schuhzeug in Ballen und das Korn in Säck, wird Mensch und Vieh sauber gezählt und weggebracht, weil man eben weiß: Ohne Ordnung kein Krieg!“1
Ein moralisches Äquivalent für den Krieg
Brecht beschreibt hier die Aufwertung des Krieges sehr eindrücklich, während Frieden unter jenen moralischen Errungenschaften und Leidenschaften subsumiert wird, die der Krieg mit sich bringt. Tugenden wie Courage, Heldentum, Hoffnung oder Vertrauen werden demnach erst durch den Krieg und nicht etwa durch den Frieden möglich, genauso wie Frieden häufig als „abstrakt“ oder „unvorstellbar“, der Krieg dagegen als real und unvermeidlich betrachtet wird. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben, dass wir eines „moralischen Äquivalents für den Krieg“ bedürften,2 da alle Leidenschaften und Tugenden, wie sie mit dem Krieg einhergingen, jegliche moralische Bedeutung und Vorzüge des Friedens aufwögen. Frieden erscheine in diesem Zusammenhang langweilig und ereignislos, so James, daher müssten „alternative spannungsvolle Ereignisse und neue Ventile für den heroischen Kampf“ gefunden werden.3
Des Weiteren schreibt James, dass die Menschen sich derart an den Krieg angepasst hätten, dass dies in ihrem zellulären Gedächtnis festgeschrieben sei. Es seien die verinnerlichten Gewohnheiten von Gedächtnis und Kultur, die unsere Reaktionen auf Bedrohungen und Konflikte bestimmten: „Der Mensch lebt durch die Gewohnheit, aber für Aufregungen und Sensationen. Die einzige Linderung von der Langeweile der Gewohnheit gewährt eine regelmäßige Aufregung.“4
Der Mensch ist nach James die einzige Spezies, die eine systematische Gewöhnung an den Krieg durch ihre Sprache und Technologien entwickelt hat. Es gilt diese Gewohnheiten zu durchbrechen, wenn wir einen Wandel bewirken wollen, denn wenn wir in einer Welt der Gewohnheiten leben, nehmen wir nicht mehr wahr, dass Krieg und Frieden der gleichen Quelle entspringen, nämlich der Art und Weise, wie wir mit Gewalt umgehen. Die Dialektik von Krieg und Frieden ist in unserem Denken und in unserer Moral fest verankert, allerdings ist das Problem damit nur unzureichend definiert.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich der französische Philosoph Henri Bergson in seinen Texten ebenfalls mit dem Problem menschlicher Gewohnheiten und Vorstellungen im Kontext der wissenschaftlichen und philosophischen Diskurse jener Zeit beschäftigt.5 Heute eröffnen uns seine Schriften Möglichkeiten der Annäherung an das Problem von Krieg und Frieden. Für Bergson ergibt sich das Problem der Wahrnehmung in philosophischer aber auch in allgemeiner Hinsicht aus einer unzureichend formulierten Fragestellung oder Bestimmung des Sachverhalts: Menschen stellen tendenziell Fragen, die ‚korrekte‘ Antworten bzw. absolute Wahrheiten voraussetzen. Auch wenn wir die unseren kulturellen Gepflogenheiten und Vorstellungen von Frieden zugrunde liegenden dialektischen Strukturen von Krieg und Frieden anerkennen müssen, sollten wir jedoch neue Fragen stellen, anstatt diese Vorstellungs- und Erinnerungsmuster stets zu wiederholen.
Wie können wir uns also dem Thema Frieden nähern?
Bergson hat auch diesbezüglich einige interessante Gedanken geäußert. Für ihn entspringt jedes kreative Vorhaben bzw. jede Erfindung der freien Entscheidungsfindung, der Fähigkeit, ein Problem für sich darzustellen, das heißt etwas zu initiieren, was es zuvor nicht gegeben hat. Er unterscheidet dabei zwischen erfinden und entdecken. Eine Entdeckung ist etwas, das mehr oder weniger bereits existiert und ohnehin früher oder später eintreten wird. Erfinden hingegen, so schreibt Bergson‚ bedeutet etwas ins Leben zu rufen, was zuvor nicht existiert hat; was vielleicht niemals eingetreten wäre.6
Eine Erfindung erfordert einen kreativen Impuls, der sich aus einer offenen Frage ergibt, in diesem Fall: Wie erfinden wir Frieden? Das kreative Potenzial entspringt laut Bergson dem Geist und dem Gedächtnis. Im Prinzip dreht sich das Leben um Energie und Bewegung; die materielle Welt bewegt sich im kontinuierlichen Fluss der Zeit (Dauer), während der Geist im Gedächtnis und in der Vorstellungskraft wohnt.7 In dieser Sichtweise ist das individuelle Leben im Grunde Gestalt gewordene Zeit, ein kreativer Fluss aus Energien, die aus dem ,Realen‘ entstehen, während es gelebt und aktualisiert wird.
Eine Erfindung erfordert einen kreativen Impuls, der sich aus einer offenen Frage ergibt, in diesem Fall: Wie erfinden wir Frieden?
Das heißt alle Welterfahrung vollzieht sich im Bereich der Zeit, die unteilbar ist. Wir sind von Zeit umgeben, die auf verschiedenen Erlebnisebenen koexistiert (sprich in Form von Erinnerungen, Gefühlen und Gewohnheiten), ob wir sie nun wahrnehmen oder nicht. Während Bergson uns eine überzeugende Darstellung gelebter Zeit unterbreitet, berücksichtigt er die Momente der ‚Unterbrechung‘ nur unvollständig, das heißt die Momente der Entspannung zwischen Innehalten und Handlung – eine andere Form von Fluss oder Rhythmus –, die die Grundlage der Existenz sind.
Für den französischen Philosophen Gaston Bachelard setzt sich die gelebte Erfahrung genauso aus Momenten des Innehaltens und der Handlung zusammen, wie sie aus Fluss und Bewegung besteht. Veränderung ergibt sich demnach aus ‚Unterbrechungen‘ im Fluss der gelebten Zeit, beispielsweise aus dem Zustand der Ruhe – Momente des Träumens, die von Stille, einer Öffnung der Zeit sowie der Dichte der Zeit geprägt sind.8 Die Träumerei meint jedoch in diesem Kontext nicht den Tagtraum im herkömmlichen Sinne, vielmehr beschreibt sie den Moment, wenn sich Denken und Bewusstsein im reinen Zustand der Beobachtung und der Erkenntnis befinden. Eine Art Offenbarwerden der Komplexität von Wirklichkeit und Bewusstsein. Umso mehr bezeichnet die Träumerei die Einbildungskraft des Menschen und die Wirklichkeit, die diese befruchtet.9
In diesem Zusammenhang schreibt Bachelard, dass Materie, bevor sie wahrgenommen wird, erst geträumt werde. Die Einbildungskraft entspringt demnach der materiellen Welt, die wir erleben, und nicht umgekehrt. Im Allgemeinen wird die Vorstellungskraft als eine Kombination von Sinneswahrnehmungen betrachtet, für Bachelard besitzt jedoch jeder Moment das imaginative Potenzial, unseren Blick auf die Welt zu erschaffen und zu verändern, da es die Welt ist, die spricht. Mit diesem Potenzial können wir uns zwischen Momenten des Innehaltens und der Handlung, zwischen Bewegung und Wahrnehmung bewegen. Dieses Vermögen kann verbinden, was in unseren Wahrnehmungsgewohnheiten gegensätzlich, unerklärlich oder zwiespältig erscheint. Bachelard schreibt dazu: „Man träumt vor dem Feuer und erkennt mithilfe seiner Einbildungskraft, dass das Feuer die Welt antreibt. Man träumt angesichts einer Quelle und erkennt mithilfe seiner Einbildungskraft, dass das Wasser das Blut der Erde ist, dass die Erde eine lebendige Tiefe besitzt.10
Die Erfindung entspringt demnach einem anderen Verständnis von Zeit und Raum. Diese Zeit ist keine gemessene Zeit, sondern Lebenszeit, die Kreisläufe der Bewegungen von Leben und Tod, die den Jahreszeiten nicht unähnlich sind. In der ‚realen Zeit‘ ist die Veränderung jeder Aktion, jeder Möglichkeit inhärent. Es sind die Gewohnheitsmuster unseres Denkens, die die Zeit fragmentieren und stilllegen, sodass das Denken statisch und verschlossen bleibt. Eine geschlossene Gesellschaft hat nach Bergsons Ansicht nur begrenzte Moral und spirituelles Temperament.11 Insofern könnte man sagen, dass eine fragmentierte Weltsicht uns voneinander trennt und entfremdet. Durch diese Entfremdung verlieren wir den Blick für die Einzigartigkeit einer jeden einzelnen Begegnung in einem ökologischeren Geisteszustand.
Die Erfindung entspringt demnach einem anderen Verständnis von Zeit und Raum. Diese Zeit ist keine gemessene Zeit, sondern Lebenszeit, die Kreisläufe der Bewegungen von Leben und Tod, die den Jahreszeiten nicht unähnlich sind.
Bergson beschreibt diese ,Zeit‘ für Erfindungen auf sehr sinnvolle Weise als Methode, die es uns erlaubt, Fragen über Frieden zu formulieren. Ebenso vermittelt er uns eine Ahnung davon, welche Vorstellungen er mit der Lebensenergie und dem Fluss des Lebens in der Zeit sowie dem Geheimnis des Lebens verbindet. Auch Bachelard lässt uns über Zeit und Raum des Lebens nachdenken, die sogar unsere Art des Sehens verändern könnten. So besitze jeder Augenblick in seiner Neuartigkeit und Unterschiedlichkeit sowie in seiner Poesie ein schöpferisches Potenzial. Eine etymologische Betrachtung von Erinnerung zeigt, dass das lateinische Wort memor Geistesgegenwart impliziert, das heißt im Grunde zeichnet sich jeder Moment durch eine gewisse Tiefe und Erlebnishaftigkeit aus.12 In dieser Form des Sehens öffnen wir uns der Erinnerung. In einer bestimmten Geisteshaltung können wir die Vergangenheit mit Würde und Anerkennung betrachten.
Aus der andauernden Zeit können sich echte Erfahrungen und Verbundenheit mit der Welt entwickeln. Martin Buber spricht in diesem Kontext von einem „authentischen Dialog“, da wir uns im Fluss des Erlebens aufeinander beziehen und die Welt erleben können. Er beschreibt dies mit den Worten: „Gegenwart ist nicht das Flüchtige und Vorübergleitende, sondern das Gegenwartende und Gegenwährende.“13
Es ist dieses Andauern der Zeit, die uns dem Unendlichen näherbringt. Aber wie Rainer Maria Rilke uns einst schon vor Augen führte, gibt es zwar eine andere Welt dort draußen, aber es ist die Gleiche wie diese.