Lee Mingwei

Sonic Blossom, 2013

„Sonic Blossom“ – „Schall-Blüte“. Ein poetischer Titel. Blüten, zart und fragil, Musik wie ein Windhauch, leise Töne – entstehen, aufblühen, vergehen – vergänglich und wunderschön. Ein synästhetischer Titel. Unsere Ohren sind gefragt, Klänge wahrzunehmen – und unsere Augen, die Schönheit der Blüte zu sehen.

„Sonic Blossom“ ist eine Arbeit des taiwanesischen Künstlers Lee Mingwei, entstanden im Jahr 2013. Wie der Titel bereits vermuten lässt, handelt es sich bei diesem Werk nicht um ein Ding, kein fassbares, objekthaftes Kunstwerk. „Sonic Blossom“ ist flüchtig und performativ. Es geht um das Auslösen und Darstellen von Beziehungen zwischen Menschen, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Sogenannte Relational Art. Wenn auch die Arbeit nicht fassbar ist, hat sie doch einen konkreten Gegenstand. Mehrere Gegenstände sogar. Das Schenken und Beschenkt-Werden, die Vergänglichkeit, biografische Aspekte des Künstlers und Franz Schuberts Lieder, die sich Lee Mingwei als „Schall-Blüten“ für seine Arbeit ausgeliehen hat.

Es geht um das Auslösen und Darstellen von Beziehungen.

Eine Sängerin geht durch die Ausstellungsräume. Sie ist in ein asiatisch anmutendes Gewand mit floralem Muster gekleidet – entworfen vom Künstler selbst. Sie wählt eine Ausstellungsbesucherin aus, geht auf sie zu und fragt: „Darf ich Ihnen ein Lied schenken?“1 Willigt die Person ein, darf sie auf einem bereitgestellten Stuhl Platz nehmen und die Performerin positioniert sich, stehend, ihr gegenüber. Sie beginnt eines von Franz Schuberts berühmten Liedern zu singen. Dabei konzentriert sie sich voll und ganz auf die beschenkte Person, denn sie singt das Lied einzig und allein für sie. Da der Gesang über Lautsprecher in den umliegenden Ausstellungsbereich übertragen wird, können auch die anderen Museumsbesucher/innen an der Aufführung teilhaben. Als Zaungäste. Ist das Lied zu Ende, gehen alle ihres Wegs: Der Moment ist so schnell vorbei, wie er entstanden ist.

Inspiriert von Franz Schubert

Lee Mingwei selbst erklärt die Entstehung der Arbeit aus seiner Biografie heraus. Schuberts Lieder hätten ihm und seiner Mutter Trost gespendet in einer Zeit, in der sie sich von einer schweren Operation erholte; einer Zeit, in der ihm die Vergänglichkeit des Lebens bewusst wurde und er zugleich eine neue Wertschätzung für die Schönheit des Moments empfand. Schönheit und Vergänglichkeit – dafür steht sowohl das Lied als auch die Blüte. Mingwei holt weiter aus und schildert, dass seine Mutter ihm bereits in seiner Kindheit in Taipeh Schubert vorgespielt habe, um ihn zu beruhigen.

Franz Schubert, „der deutsche Liederfürst“ in Taiwan – wer hätte das gedacht? Mit seiner persönlichen Geschichte verbunden, bringt Mingwei Schuberts Lieder nun wieder zurück nach Deutschland, als Teil seiner Arbeit „Sonic Blossom“. Musik

Es geht nicht nur um Schönheit und Vergänglichkeit, sondern auch um das Schenken als Geste, als Akt der Freundschaft und Verbundenheit.

Schubert schrieb etwa 600 Lieder. Sie sind der Inbegriff deutscher Romantik. Umso mehr, da sie vertonte Lyrik sind. Musik und Sprache kommen zusammen in einer typischen Mischung von großer Melancholie und unbeschreiblicher Schönheit. Das Motiv der Vergänglichkeit auch hier, das Ausgeliefertsein des Individuums. Die Natur, die Nacht, die Sehnsucht.

Mingwei hat für „Sonic Blossom“ fünf Lieder ausgewählt, aus welchen die Sänger/innen wählen können: Du bist die Ruh (Friedrich Rückert), An den Mond (Johann Wolfgang von Goethe), Frühlingsglaube (Johann Ludwig Uhland), Nacht und Träume (Matthäus von Collin), Auf dem Wasser zu singen (Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg).

May I give you a gift of a song?

„Darf ich Ihnen ein Lied schenken?“ – Mingwei betont, dass es bei dieser Arbeit nicht nur um seine Biografie oder um Schönheit und Vergänglichkeit geht, sondern auch um das Schenken als Geste, als Akt der Freundschaft und Verbundenheit. Die Auserwählten erhalten unverhofft ein flüchtiges, immaterielles Geschenk. Damit knüpft Mingwei an eines der großen Themen des Menschseins an. Glaubt man bedeutenden Anthropologen, Soziologen und Philosophen wie Bronislav Malinowski, Marcel Mauss oder Jacques Derrida, die der Gabe ganze Werke gewidmet haben, ist das Geschenk eine der wichtigsten und grundlegendsten Institutionen menschlichen Interagierens überhaupt. Und hier geht es, wie in Mingweis Performancekonzept, nicht nur um die Geschenke in buntem Papier und mit großen Schleifen (zum Geburtstag, zu Weihnachten oder zu anderen Festen).

Geschenke sind Zeichen von Freundschaft und Zuneigung, zugleich schaffen sie Verbindlichkeiten zwischen den Beteiligten. Nicht immer sind Geschenke selbstlose Akte. Man denke nur an das Trojanische Pferd, das ein Geschenk an die arglosen Trojaner war. Ein Geschenk, eine Gabe erfordert eine Gegengabe. Sei sie materiell oder immateriell. Darin sind sich inzwischen die meisten Kulturwissenschaftler/innen einig. Zurück zu Mingweis Arbeit: Was geschieht, wenn die Beschenkte ablehnt? Was, wenn sie mitten im Lied aufsteht und geht? Beides ist unwahrscheinlich, aber allein die Möglichkeit zeigt, dass es auch bei dem Geschenk eines Liedes in „Sonic Blossom“ um eine Art impliziten Vertragsschluss geht. Nimmt die Besucherin das Geschenk an, ist sie nicht nur die Beschenkte, sie schenkt ihrerseits der Performerin ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit und vielleicht auch Freude und Dankbarkeit.

"Sonic Blossom" ist ein Geschenk an das Museum und an die Öffentlichkeit. Und was ist die Gegengabe?

Im Übrigen könnte Mingweis Arbeit auch als Geschenk im Geschenk bezeichnet werden. Denn die Gabe der Sängerin an die Besucherin ist Teil des Konzepts des Künstlers. Der bezeichnet seine Arbeit wiederum selbst als ein Geschenk an das Museum und an die Öffentlichkeit. – Und was ist die Gegengabe? Das Museum schenkt der Arbeit von Mingwei einen Raum, eine öffentliche Plattform, ein Publikum.

Im Vordergrund von „Sonic Blossom“ steht die individuelle Begegnung von Sängerin und Zuhörerin. Was auf den ersten Blick sehr flüchtig erscheint, besitzt eine hohe symbolische Kraft. Das ist die besondere Stärke dieser künstlerischen Arbeit. Ihr Konzept ist denkbar einfach, doch was sie auslöst und impliziert, kann unendlich komplex sein. Wie menschliche Beziehungen eben.

Lisa Beisswanger

Lisa Beißwanger ist Kunsthistorikerin und lehrt an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Derzeit verfasst sie eine Promotion zum Thema performative Kunstformen in musealen Kontexten.

TERMINE 

DIENSTAG, 4.- SONNTAG, 9. JULI 2017
Städel Museum

DIENSTAG, 11.- SONNTAG, 16. JULI 2017
Deutsches Architekturmuseum

DIENSTAG, 15.- SONNTAG, 20. AUGUST 2017
MMK1 Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main

DIENSTAG, 22.–SONNTAG, 27. AUGUST 2017
Museum Angewandte Kunst

DIENSTAG, 19.– SONNTAG, 24. SEPTEMBER 2017
Täglich 11–14 UHR + 15–18 UHR
SCHIRN, in der Ausstellung PEACE

Regulärer Eintritt in das jeweilige Museum/Ausstellungshaus