Wann haben Sie zuletzt einen Brief geschrieben? Keinen Beschwerdebrief oder einen Brief ans Finanzamt, sondern einen richtigen, persönlichen Brief? Für lange Zeit (seit Erfindung des Postwesens und bis zur Erfindung der Telekommunikation) waren Briefe das Langstrecken-Kommunikationsmedium schlechthin. Heute, in Zeiten von Facebook, WhatsApp und E-Mail wirken Briefe irgendwie anachronistisch, beinahe nostalgisch. Briefeschreiben erfordert Zeit und Sorgfalt und die investiert man im digitalen Zeitalter nicht mehr so ohne weiteres. Deshalb sind Briefe etwas Besonderes geworden und höchstens noch zu Anlässen wie Geburten, Hochzeiten oder Todesfällen üblich. In Lee Mingweis konzeptueller und prozessualer Arbeit „The Letter Writing Project“ geht es, wie der Titel bereits verrät, um eine Rehabilitierung des analogen Briefeschreibens. Kommunikation und Sprache
Wie viele Arbeiten von Lee Mingwei besteht „The Letter Writing Project“ aus mehreren Komponenten. In der Ausstellung treffen die Besucherinnen und Besucher zunächst auf den vom Künstler gestalteten, physischen Teil der Arbeit: eine Installation, die aus drei nahezu identischen Raumelementen besteht. Diese Elemente setzen sich jeweils aus einem Holzpodest und drei zu den Seiten aufragenden, milchig durchscheinenden Wänden zusammen. Nach einer Seite und nach oben hin öffnet sich die Konstruktion in den Ausstellungsraum. Die so entstehenden Räume im Raum wirken hell und leicht. In ihrer Klarheit und Reduktion mögen sie an asiatische Architektur erinnern. Zu jedem Podest führt eine Stufe hinauf, die suggeriert, dass das Betreten erwünscht ist. Im Innern befindet sich eine je unterschiedliche Möblierung, die einmal zum Sitzen, einmal zum Stehen und einmal zum Knien einlädt. An den Wänden sind in regelmäßigen Abständen schmale, horizontale Holzleisten angebracht, die an Regale erinnern. In allen Räumen werden Papier, Stifte und Briefumschläge bereitgestellt.
Die offene Architektur und das vorbereitete Material schaffen eine einladende Atmosphäre. Ausstellungsbesucher/innen sollen sich aktiv am „Letter Writing Project“ beteiligen. Ähnlich wie „Sonic Blossom“ und andere Arbeiten von Lee Mingwei firmiert auch diese Arbeit unter dem Überbegriff Relational Art – eine Kunstform, in der es um menschliche Beziehungen und Interaktion geht und um eine Aktivierung und Beteiligung der Rezipienten. Damit ist bereits angedeutet, dass die beschriebene Installation lediglich den Ausgangspunkt für das eigentliche Werk darstellt, das weit über diese erste, materielle Ebene hinausgeht. Lee Mingweis Konzept gibt hierfür die Rahmenbedingungen vor: Die Räume sollen einzeln betreten werden und die Teilnehmenden sind angehalten, vor dem Betreten ihre Schuhe auszuziehen.
Wer sich aktiv beteiligen möchte, darf nun das bereitgehaltene Material nutzen und einen Brief verfassen. Es sollte ein Brief an eine nahestehende Person sein. Der Inhalt ist nicht vorgegeben, nur, dass es sich um eine konstruktive, positive Nachricht handeln sollte. Es soll um Dinge gehen, die schon längst einmal hätten gesagt werden müssen, Dinge, die sonst im hastigen Alltag manchmal untergehen. Die geschriebenen Briefe können dann, in Umschläge gesteckt und adressiert, auf den Regalleisten platziert werden. Entweder offen, dann können andere Besucher hineinsehen, oder verschlossen, dann bleiben sie privat. Während der Ausstellungslaufzeit werden die Briefe dann zu bestimmten Zeitpunkten frankiert und zur Post gebracht, sodass sie tatsächlich ihre Adressaten erreichen.
Lee Mingwei erklärt die Idee für „The Letter Writing Project“ aus seiner eigenen Biografie heraus. Nach dem Tod seiner Großmutter habe er viel über die Dinge nachgedacht, die er ihr gerne noch gesagt hätte. Aus diesem Grund habe er angefangen ihr Briefe zu schreiben, gleichsam um sich die ungesagten Worte von der Seele zu schreiben. Mit dem aus dieser Idee einer therapeutischen Wirkung des Schreibens entstandenen Werk möchte er nun Ausstellungsbesucher/innen einen Raum zur Verfügung stellen, es ihm gleichzutun und zwar nicht erst, wenn ein Todesfall den Alltagstrott jäh unterbricht. Er beabsichtigt dabei eine gleich dreifache Wirkung: auf die Absender, die Empfänger und diejenigen, die als stille Beobachter am Projekt teilhaben und durch die Briefe von Fremden an Fremde Denkanstöße für ihr eigenes Leben erhalten.
Die ungesagten Worte von der Seele schreiben.
Die Einladung zur Beteiligung bringt aber auch Herausforderungen mit sich: Wie die richtigen Worte finden? Wer hat heute überhaupt noch Postadressen im Kopf? Wer traut sich, in der Öffentlichkeit seine Emotionen preiszugeben? Die Arbeit entzieht sich einer einfachen Konsumierbarkeit, denn sie bleibt so lange stumm, bis jemand die Zeit und die Energie aufwendet teilzunehmen und damit wiederum andere teilhaben lässt. Es handelt sich um ein Angebot mit offenem Ausgang, das den Teilnehmenden nicht nur Mut und Eigeninitiative abverlangt, sondern zugleich auch großes Verantwortungsbewusstsein. Denn die Frage nach einer (fehlenden) inhaltlichen Kontrolle drängt sich auf. Wer stellt sicher, dass wirklich nur positive Nachrichten geschrieben werden? Letztendlich ist eine solche Kontrolle nicht möglich, was der Arbeit ein verletzliches und fragiles Moment verleiht und an die Eigenverantwortung der Schreibenden appelliert.
Der im Werktitel enthaltene Begriff des „Projekts“ weist darauf hin, dass es sich um keine abgeschlossene Arbeit handelt, sondern um einen Prozess, dessen Ausgang von den Beteiligten abhängig ist. Wo immer die grundlegenden Rahmenbedingungen geschaffen werden, kann die Arbeit präsentiert und damit zum Katalysator für Netzwerke und Beziehungspflege zwischen Menschen werden. Wichtig ist dabei, dass die Briefe keinesfalls im Museum bleiben, sondern die Schwelle des musealen Raumes überschreiten, hinaus in die Alltagswelt. Welche Wirkung sie dort entfalten, bleibt offen, über die Reaktionen der Adressierten kann man höchstens spekulieren. Aus kunsthistorischer Perspektive mag das an die sogenannte Mail Art erinnern, eine Kunstform, die sich insbesondere bei den Fluxus-Künstlern in den 1960er-Jahren großer Beliebtheit erfreute. Nicht von ungefähr war auch das eine Kunstströmung, die sich an einem neuen Verhältnis von Kunst und Leben abgearbeitet hat. Während hier der Briefwechsel zumeist von den Künstlern selbst ausging, sind es beim „Letter Writing Project“ aber die Rezipienten, die das Schreiben übernehmen.
Auch bei dieser Arbeit von Lee Mingwei stehen Partizipation, Interaktion und Kommunikation von und zwischen Menschen im Vordergrund. „The Letter Writing Project“ macht deutlich, dass Kommunikation eine Verwandlung von Gefühlen in Worte erfordert. Unausgesprochenes soll ausgesprochen oder zumindest verschriftlicht werden. Lee Mingweis Arbeit zeigt, dass bei allen Konflikten und Unwägbarkeiten des menschlichen Zusammenlebens gerade die konstruktiven Kräfte immer wieder der Aktivierung und Pflege bedürfen. Dafür schafft der Künstler zwar die Rahmenbedingungen, die Gelegenheit ergreifen müssen aber wir selbst.
Lisa Beißwanger
Lisa Beißwanger ist Kunsthistorikerin und lehrt an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Derzeit verfasst sie eine Promotion zum Thema performative Kunstformen in musealen Kontexten.