Die Behauptung, dass Menschen Tiere seien, die sich von allen anderen Tierarten unterscheiden, wurde erstmals von Aristoteles aufgestellt. Er bezeichnete den Menschen als „sprachbegabtes Lebewesen“ (zōon logon echon), eine Definition, die später im Übergang vom Griechischen zum Lateinischen in den klassischen Begriff „Animal rationale“ mündete. Aristoteles’ Definition stand ganz im Gegensatz bzw. war eine Antwort auf die seiner Vorgänger wie Homer, Empedokles, Parmenides oder Demokrit, die sich der Frage der unterschiedlichen Fähigkeiten von Tieren und Menschen erst gar nicht gewidmet hatten. Wenn nun allen Tieren und Pflanzen ein geistiges Vermögen zugesprochen wird, bringt dies für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Wahrnehmung eine äußerst interessante neue Wendung ins Spiel. Viele mögen diese Ideen von Theoretikern bzw. die Experimente von Künstlern, die sich als Tier oder Pflanze ausgeben, als allzu abwegig empfinden. Tatsächlich gibt es einen großen Vorbehalt, die gewohnten politischen Wahrheiten, wie die Linke sie vertritt, als Aspekte menschlicher Wahrnehmung und Interessen zurückzulassen.
Über Jahrhunderte wurde der Mensch durch die Sprache und die Arbeit definiert. Wie können wir diese Überzeugung aufgeben und eine Blume werden? Gar eine Passionsblume? Ingela Ihrman plädiert dafür, diese verbreitete Vorstellung umzukehren und bezeichnet den kulturellen Charakter der Passionsblume als übertrieben vermenschlicht, seit spanische Priester ihr im 17. Jahrhundert in Südamerika ihren Namen gaben. Indem sie sie als „La flor de las cinco llagas“ oder „Die Blume mit den fünf Wunden“ bezeichneten und damit einen Bezug zum Leiden Christi, seiner Passion herstellten, wurde sie Teil des logischen Konstrukts der Transzendenz, bei dem die irdischen Sinne durch ein Leiden, das Schmerz in Glorie verwandelt, außer Kraft gesetzt werden. Insofern scheint es eine wirklich gute Idee zu sein, in diese Blume zu schlüpfen, sie nicht nur zu beobachten und zu beherrschen, sondern diese Logik umzukehren und sie auf eine Immanenzebene, in die Ordnung des Lebens zurückzuholen. Sicherlich können wir diesen Vorgang nicht mit jedem einzelnen Tier oder jeder Pflanze, jedem Lebewesen, einschließlich der Menschen, wiederholen, aber allein die Idee, wir könnten und sollten das tun, eröffnet unserer Vorstellungskraft eine ganz neue Dimension.
Als diese Blume dann am 13. Juni 2017 aufblühte, überprüften wir noch am gleichen Tag unsere Vorstellung, dass Wahrnehmung durch eine geringfügige Veränderung erfolgt, wobei der wahrnehmende Körper einen Teil des Wahrgenommenen annimmt. Es ist außerordentlich schwierig zu beschreiben, was in mir oder den vielen anderen Personen im Raum vorging, als wir einen Mensch als Blume erblickten. Es wäre falsch, in diesem Kontext von einer Performance zu sprechen, da es sich um eine echte Verwandlung, eine Metamorphose handelte – das Aufblühen einer Blume, die sich mit ihren riesigen Blütenblättern und Blütenstempeln öffnete und sich uns darbot, als wären wir alle Vögel, die sich ihr nähern und ihren Nektar trinken wollten.
Diese Blume, die die Künstlerin mit großem Zeitaufwand und Sorgfalt angefertigt hatte, bescherte uns plötzlich die Erkenntnis, dass Leben nicht „ist“, sondern „wird“. Und dass es entsprechend nicht möglich ist, die Lebensprozesse selbst zu beobachten, sondern nur die sie vermittelnden Strukturen. Daher haben die Künstler mit ihrem Interesse am Leben eine solch große Bedeutung. Nicht weil sie der Kunst ein weiteres „Sujet“ bescheren, sondern weil sie sich darum bemühen, Kunst mit Leben zu erfüllen. Dabei entsteht eine Praxis, in der die Vereinigung aller Lebensformen in einem einzigen Impuls, einem einzigen Verlangen zusammenfließt: Das wäre dann eine Vorstellung der kreativen, formgebenden Kraft der reinen Energie – die faszinierende Kraft der Formen, die sich aus der Formlosigkeit entwickeln.
Goethe notierte während seiner italienischen Reise: „Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt“.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Pflanzen stellten für den Dichter die Materie dar, die ihm die Behauptung ermöglichte, die Metamorphose sei nicht nur eine Regel der Natur, sondern eine Denkform. Die Metamorphose ist die Bezeichnung für Verwandlung und das ist etwas völlig anderes als Veränderung – die Schlüsselidee moderner Erfahrung. Auf seiner Suche nach bedingungsloser Kreativität sah Goethe, wie dies im Leben der Pflanzen und Blumen vonstatten ging, denn dort verwandelte sich die reine Materie in Blätter. Er betrachtete diese sukzessive und ausdrückliche Differenzierung als ein Ideal, dem das Wissen zu folgen habe, denn die Metamorphose leitet die Permanenz der Natur von ihrer Wandlungsfähigkeit ab: Form führt zu einer Formation, Gestalt führt zu einem Übergang.
Wie eine Blume zu empfinden, kann daher als Ergebnis einer grundlegenden und notwendigen Verwandlung betrachtet werden, wobei ein Wesen die Kohärenz eines anderen verändert. Die Linken nennen es „Toleranz“, aber diese Bezeichnung ist nicht adäquat. Die Blume zeigt uns, dass es um mehr als nur „Erlauben“ geht und dass in diesem „Mehr“ der wahre Kern zukünftiger Formen von Demokratie liegt.
Annäherung durch Fiktion
Wenn Ihnen dieses Durchdenken von Natur und Organizität jedoch zu abwegig erscheint, bleibt immer noch eine Annäherung durch die Fiktion. Nehmen wir die Zeichentrickfigur Barbapapa als Beispiel – sie wurde in den 1970er-Jahren von der französischen Architektin Annette Tison und ihrem Ehemann Talus Taylor erfunden. Dieses zuckerwattenähnliche, neuartige Lebewesen hat die Fähigkeit, jede beliebige Form anzunehmen. Seine Erfinder schrieben: „Mit ein paar Veränderungen seiner Form und einer großartigen Fantasie meistert er mühelos alle schwierigen Situationen! Er ist immer hilfsbereit. Seine Gutmütigkeit ist unerschöpflich.“
Die theoretische Kritik so durch Barbapapa zu ersetzen, wird manchem womöglich zu weit hergeholt erscheinen und das ist es auch. Aber die Möglichkeiten, die sich aus der unerschöpflichen Gutmütigkeit als Methode ergeben, um uns in diesem sich drastisch verändernden gesellschaftlichen Kontext mit dem Verhältnis von öffentlicher Erinnerung und Geschichte bzw. Vergessen auseinanderzusetzen, dienen als Ermutigung, dies zu wagen.
Es gibt kein anderes Mittel, um die Bedeutung von Metamorphose zum Ausdruck zu bringen, als einen anti-epischen Witz, der spielerisch auf die Notwendigkeit einer radikalen Empathie verweist und auf die Tatsache, dass dieses Ein-Anderes-Wesen-Werden immer die Unmöglichkeit der Einheit impliziert, wie sie uns das hierarchische Verständnis von Autorität bzw. einer Moral, die durch eine einheitliche Stimme über das Soziale herrscht, vorgaukelt.
Es gibt kein anderes Mittel, um die Bedeutung von Metamorphose zum Ausdruck zu bringen, als einen anti-epischen Witz, der spielerisch auf die Notwendigkeit einer radikalen Empathie verweist und auf die Tatsache, dass dieses Ein-Anderes-Wesen-Werden immer die Unmöglichkeit der Einheit impliziert, wie sie uns das hierarchische Verständnis von Autorität bzw. einer Moral, die durch eine einheitliche Stimme über das Soziale herrscht, vorgaukelt.
Dies wäre tatsächlich ein Beitrag für die Schaffung eines neuen und produktiven epischen Stils. Einer, der nicht auf allen gegenwärtigen Katastrophen beruht, sondern in diesem Moment des Übergangs die notwendige Freude mit sich bringt. Er fördert ein Gespür für die Menschen, für uns alle unabhängig von unserer Nationalität – ein aktueller Aufruf an die Gutmütigkeit, die wir brauchen, um ein neues soziales Gefüge zu entwickeln.